- Man wird es im Rechtsstaat hinnehmen müssen, dass es eine gewisse Zahl an Menschen gibt, von denen man befürchten muss, dass sie irgendwann zuschlagen. Und doch kann man es nicht verhindern.
- Wir dürfen nie vergessen, dass es sich bei der Erstellung einer Gefährlichkeitsprognose um die Einschätzung der Rückfallgefahr handelt, also wie wahrscheinlich es ist, dass ein verurteilter Straftäter abermals eine Straftat verübt.
Definition von gewalttätigem Verhalten:
Aggressives Verhalten, das Schäden an Gegenständen verursacht oder Menschen oder Tieren schadet, gilt als gewalttätiges Verhalten. Nicht jede Gewalt entsteht durch körperliche Aggression, auch verbale Aggression kann Schaden anrichten.
Wir unterscheiden zwei Formen der Aggression:
- Reaktive, impulsive Form
- Appetitive Aggression
Bio-psychosoziales Modell der Aggression
- Sozialisierung: Der Mensch lernt nicht nur aus Erfahrungen. Handlungsleitlinien werden im familiären Umfeld während der Kindheit (primäre Sozialisation) und in der Jugend über die Peergroup (sekundäre Sozialisation) vermittelt. Diese Leitlinien prägen das Norm- und Wertesystem. Das Lernen einer kontrollierten und angemessenen Expression von Aggression innerhalb der eigenen Gruppe ist für das eigene Überleben und das Überleben der Gruppe essentiell.
- Biologische Prädisposition: Subkortikale Zentren: Amygdala, Hippocampus, Hypothalamus sind mit der Verarbeitung von Bedrohungsreizen und der Bewertung der Reize befasst. Sie können den Organismus in die Bereitschaft versetzen aggressive Verhaltensweisen abzurufen. Frontal kortikale Zentren kontrollieren dieses Verhalten und lassen es sozial angemessen ablaufen.
- Psychische Variablen: Diese Variablen sind heterogen und umfassen alle Faktoren, die am Erleben und Handeln beteiligt sind. Überzeugungen, Erwartungen, Kognitionen, Emotionen, Stress, Persönlichkeitsakzentuierungen, Erschöpfungszustände
Psychische Erkrankungen und Aggression
Gemittelt über alle Störungsbilder gibt es kein erhöhtes Risiko für die Begehung von Straftaten bei Personen mit psychischen Störungen. Aber es gibt Störungen, bei denen von einem mehrfach erhöhten Risiko auszugehen ist:
- Schizophrene Störungen
- Abhängigkeitserkrankungen
- Neurodegenerative Erkrankungen
- Persönlichkeitsstörungen
Historische Entwicklung
- 1950 – 1970: Suche nach Kriterien für die Rückfälligkeit durch soziologisch orientierte Kohortenstudien (Mey 1967: Handbuch Forensische Psychologie)
- 1970 – 1980: Skeptizismus und Hinterfragen der ethischen und wissenschaftlichen Berechtigung von Gefährlichkeitsprognosen
- 1980 – 1990: Empirische Analyse und Studien die zur Entwicklung von kriterienorientierten Checklisten führten – aktuarische Verfahren
- 1990 – 2000: Entwicklung mehrdimensionaler (statisch und dynamischer) Verfahren (von der Risikoerfassung zum Risikomanagement)
Beurteilung des Rückfallrisikos
- Ziel: Eine möglichst präzise Schätzung der Rückfallwahrscheinlichkeit eines Täters vorzunehmen.
- Das Rückfallrisiko des Einzelnen kann zwischen 0% und 100% liegen.
- Das Merkmal „Rückfall“, dessen Wahrscheinlichkeit eingeschätzt wird, hat einen binären Charakter: Rückfall vs. kein Rückfall
- Bei der Schätzung wird eine prozentuelle Einschätzung der Auftretenswahrscheinlichkeit des Ereignisses „Rückfall“ vorgenommen.
Klinischer vs. Mechanischer Zugang
- Die klinische Methode, auch intuitiv genannt, ist dadurch gekennzeichnet, dass die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung bzw. die Zuordnung zu einer Gruppe (niedriges Rückfallrisiko vs. hohes Rückfallrisiko) ohne standardisierte Regeln erfolgt.
- Die mechanische Methode, ist dadurch gekennzeichnet, dass die Wahrscheinlichkeitsbeurteilung bzw. die Zuordnung zu einer Gruppe (niedriges Rückfallrisiko vs. hohes Rückfallrisiko) standardisiert erfolgt.
Überlegenheit der mechanischen Methode
- 1954 (Meehl): 20 Studien die die Güte von mechanisch generierten Beurteilungen (Fragebogen u.ä.) mit der Güte klinischer Beurteilungen von erfahrenen Psychologen, Psychiatern und Ärzten verglichen zeigten, dass in 19 von 20 Studien die mechanische Methode der klinischen Methode überlegen war.
- Die Chefarztsekretärin erzielt mit größerer Wahrscheinlichkeit ein korrektes Ergebnis als ihr Chef, wenn sie sich an ein standardisiertes Auswertungsschema hält und der Chef auf die Anwendung eines standardisierten Verfahrens verzichtet.
- Heutiger Wissensstand (zitiert 2012): Die Genauigkeit ist bei der mechanischen Methode um 13% höher.
- Zum Vergleich war der Effekt von Aspirin nur 7% höher als das Plazebo, dennoch musste die Abgabe des Plazebos aus ethischen Gründen eingestellt werden.
Wie gut ist die klinische Methode, welchen Einfluss hat das Expertenwissen auf die Qualität der Beurteilung und was macht echtes Expertenwissen aus?
- 1. Konsistenz der Einschätzung der Experten (Interraterreliabilität)
- 2. Güte der Einschätzung der Experten (Kriteriums Validität)
- 3. Grad der Spezialisierung
- Unterschiedliche Einschätzung zwischen Experten und Laien (inkrementelle Validität)
Untersuchung durch Quinsey & Ambtman 1979: „Stellt Expertenwissen einen substanziellen Gewinn für die Qualität einer klinischen Beurteilung dar?“
- Es war nicht auszumachen, dass die klinisch urteilenden Psychiater einer klar umrissenen, einheitlichen Methode folgten.
- Ihre Prognosen waren nicht besser als jene der Laien.
- Weder den Psychiatern noch den Laien gelang es zuverlässig zwischen Rückfaltätern und nicht Rückfalltätern zu unterscheiden.
- Keines der vier Kriterien, die ein echtes Expertenwissen ausmacht waren erfüllt!
Die Prognose – Entwicklung eines Instruments
- Abhängige Variable: Jede neue Anklage wegen eines Gewaltdelikts.
- Unabhängige Variable: (ca 50)
- Soziodemografische Informationen
- Probleme in der Kindheit
- Anpassung im Erwachsenenalter
- Charakteristik des Delikts
- Psychologische Testergebnisse
Korrelation mit gewalttätigem Rückfall
Item des VRAG | Korrelation |
12. Psychopathie Check Liste (PCL-R) | .36 |
2. Schulprobleme (Elementarschule, bis 8. Schulstufe) | .31 |
7. Alter beim derzeitigen Delikt? | .31 |
6.Verstöße gegen Auflagen und neue Anklage während der Probezeit? | .29 |
5. Kriminelle Vergangenheit bezüglich nicht gewaltvoller Delikte vor der Anlasstat | .28 |
10. Irgendeine Persönlichkeitsstörung nach DSM-III | .27 |
8. Verletzung des Opfers (beim Indexdelikt) | .23 |
1. Lebte mit beiden biologischen Elternteilen bis zum 16. Lebensjahr | .23 |
3. Alkohol Probleme | .15 |
4. Ehestatus (zum Zeitpunkt des Delikts) | .15 |
11. Diagnose der Schizophrenie nach DSM-III | .12 |
9. Irgendein weibliches Opfer (beim Indexdelikt) | .09 |

Basisrate
- Die Anzahl der tatsächlichen Rückfälle in der Bevölkerung bzw. der Population.
- Es handelt sich um eine unbekannte Größe, die statistisch geschätzt werden kann.
- Wir unterscheiden zwischen: Festnahmen, Wiederverurteilungen, erneute Strafhaft und Dauer bis zum “Rückfall“.
aus diesem Grund ist die Vergleichbarkeit der verschiedenen Studien schwierig!
Basisraten der einzelnen Delikte
- Tötungsdelikte 0% bis 3%
- Inzesttäter 8%
- Vergewaltigung 10% bis 25%
- Sexualdelikte allg. 15%
- Häusliche Gewalt 17%
- Kindesmissbrauch 24%
- Körperverletzung 32% bis 35%
- Raub 50%
- Drogendelinquenz 77%
- Exhibitionismus 78%
- KFZ Diebstahl 80%
Risikobeurteilungen bei Straftätern sollten anhand eines standardisierten Vorgehens vorgenommen werden. Am besten eignen sich dafür mechanische Instrumente, die eine eindeutige Aussage zur Rückfallwahrscheinlichkeit ermöglichen.
Für die Anwendung in der Praxis stehen eine Reihe mechanischer Instrumente zur Verfügung. Die Frage, die beantwortet werden muss lautet deshalb:
Wer wird wann, unter welchen Umständen, mit welchem Delikt, wieder rückfällig und mit welchen Interventionen oder Maßnahmen kann man das bestmöglich verhindern?
Dynamische Prädiktoren
- 1997 Quinsey, Coleman, Jones & Altrows: Veränderung des Risikos einer Person soll berücksichtigt werden, deshalb werden neben den statischen auch dynamische Aspekte erhoben.
- 2020 Denis Yukhnenko, Nigel Blackwood und Seena Fazel
Ergebnisse der Meta Analyse 2020, Univ. Oxford
Risikofaktor | Anzahl der Studien | Odds Ratio |
Kriminelle Vorgeschichte | 9 | 3 |
Substanzmissbrauch (unspezifisch) | 3 | 2,3 |
Antisoziale Peergroup | 6 | 2,2 |
Geringes Einkommen | 4 | 2 |
Alter unter 21 Jahre | 5 | 1,9 |
Arbeitslos | 8 | 1,8 |
Drogenmissbrauch | 5 | 1,7 |
Alleinstehend oder geschieden | 4 | 1,6 |
Schulabbruch | 9 | 1,6 |
Männlich | 13 | 1,4 |
Psychische Probleme | 4 | 1,4 |
Einfluss von psychischen Störungen auf Risikofaktoren (Jankovic, Masthoff, Spreen, de Loof, Bogaerts (2021). A Latent Class Analysis of Forensic Psychiatric Patients in Relation to Risk and Protective Factors. Frontiers in Psychology, Juli 2021, Vol 12, Article 695354)
Risikofaktoren | Persönlichkeitsst. | Multiple Störungen | Antisozialität | Psychose | Minderbegabung |
Psychotische Symptome | 0,12 | 0,31 | 0,37 | 1,09 | 0,61 |
Abhängigkeit | 0,45 | 0,56 | 0,72 | 0,29 | 0,17 |
Impulsivität | 1,7 | 1,85 | 2,17 | 1,64 | 1,58 |
Antisoziales Verhalten | 1,33 | 1,42 | 1,82 | 1,16 | 1,02 |
Antisoziale Peergroup | 0,93 | 1,09 | 1,09 | 1,44 | 1,19 |
Violence Risk Scale (VRS)
- Stephen WONG & Audrey GORDON (2000)
- Speziell zur Risikoerfassung von Gewalt bei forensischen Klienten entwickelt, die nach einem gewissen Behandlungszeitraum für eine Entlassung aus einer Institution in Frage kommen.
- Veränderung des Risikos einer Person soll berücksichtigt werden, deshalb werden neben den statischen auch dynamische Aspekte erhoben.
- Statische Faktoren (6):
- Bleiben trotz durchgeführter Behandlungsmaßnahmen unverändert.
- Handelt es sich um eine Einschätzung des früheren kriminellen Verhaltens oder der früheren Umstände.
- Dynamische Faktoren (20):
- Sind veränderbar und können eine Veränderung des Risikos nach einer Behandlung abbilden.
- Erfassen den Lebensstil, pro- und antisoziale Einstellungen, Persönlichkeitseigenschaften und soziale Kontakte
- Bewertung auf einer 4 Punkte Skala
Transtheoretical Model of Change
(Prochaska & De Clemente 1986; Prochaska, Dclemente & Norcross 1992)
Anhand von Studien über Suchtverhalten entwickelt und bei Alkoholmissbrauch, Nikotinsucht, Adipositas und häuslicher Gewalt validiert. Personen, die ihr Problemverhalten verändern durchlaufen einen Stufenprozess:
- Absichtslosigkeit
- Absichtsbildung
- Vorbereitungsstadium
- Handlungsstadium
- Aufrechterhaltungsstadium
Dieses Modell wird im VRS verwendet um Veränderungen durch die Behandlung zu erfassen.
Risikoprognostik anhand der VRS:SO
- VRS:SO = Violence Risk Scale: Sexual Offender Version
- Stephen WONG, Mark OLVER, Terry NICHOLAICHUK & Audrey GORDON (2003)
- Speziell zur Risikoerfassung von sexueller Gewalt bei forensischen Klienten entwickelt, die nach einem gewissen Behandlungszeitraum für eine Entlassung aus einer Institution in Frage kommen.
- Veränderung des Risikos einer Person soll berücksichtigt werden, deshalb werden neben den statischen auch dynamische Aspekte erhoben.
Beispiel für die Genauigkeit einer Prognose bei Kindesmissbrauch mittels VRS:SO
Prognose | Reales Eintreten | ||
rückfällig | nicht rückfällig | ||
Rückfall | Richtig positiv17 | Falsch positiv22 | 39 |
kein Rückfall | Falsch negativ7 | Richtig negativ54 | 61 |
24 | 76 | 100 |